Ibsen und Strindberg: Der »moderne Durchbruch«

Ibsen und Strindberg: Der »moderne Durchbruch«
Ibsen und Strindberg: Der »moderne Durchbruch«
 
Die letzten drei Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts waren eine Zeit des Umbruchs, in der wesentliche Grundlagen für die Literatur des 20. Jahrhunderts gelegt wurden. Während für die Lyrik und den Roman der französischen Literatur eine Vorreiterrolle zukommt, sind es auf dem Gebiet des Dramas zwei skandinavische Dichter, denen epochale Wirkung als Neuerer beschieden war: der Norweger Henrik Ibsen und der Schwede August Strindberg.
 
Obwohl die Dichter menschlich wie literarisch Gegensätze darstellen, gibt es in ihrem Werdegang doch gewisse Übereinstimmungen: Beide feierten ihren internationalen Durchbruch als Naturalisten, wandten sich jedoch mit ihren späteren Werken vom Naturalismus ab. So war Ibsen vor allem durch seine Ideendramen »Brand« (1866) und »Peer Gynt« (1867) bereits auch über die Grenzen seines Landes hinaus bekannt, ehe er mit seinen zwölf Gesellschaftsdramen, deren erstes 1877 erschien, zur weltliterarischen Größe emporstieg. Während die beiden früheren Stücke noch deutlich Spuren der romantischen Dramenauffassung erkennen lassen - die Dialoge sind in gereimten Versen verfasst, die Handlung trägt märchenhafte Züge -, gibt Ibsen diese zugunsten einer realistisch-naturalistischen Konzeption auf, wie sie noch heute in Fernsehserien (»Derrick«) und »Soap operas« (»Dallas«) der populären Kultur selbstverständlich ist: Dazu gehört, dass die Dialoge in einer alltagsnahen Sprache abgefasst sind, die Dramen in der Gegenwart spielen und ein Stück bürgerlichen Alltags wieder geben. Darüber hinaus wollen Ibsens Texte aber auch politisch wirksam sein, indem sie gesellschaftliche »Probleme zur Debatte« stellen, so wie es der einflussreiche dänische Kritiker Georg Brandes gefordert hatte.
 
Ziel der Kritik war dabei insbesondere die heuchlerische Doppelmoral des Bürgertums, die Ibsen nicht zuletzt durch die Institution der Kirche repräsentiert sah. Dabei lässt er die Konflikte zumeist in der Ehe, dem Kernbereich des bürgerlichen Zusammenlebens, auftreten. So muss die Titelheldin aus »Nora oder Ein Puppenheim« (1879) erkennen, dass ihr Mann sie in dem Augenblick fallen lässt, als er sein gesellschaftliches Ansehen zu verlieren droht - wegen einer Verfehlung Noras, die einst aus Liebe zu ihm einen Wechsel gefälscht hatte. Als Konsequenz aus dieser Einsicht verlässt sie Mann und Kinder und beginnt ein neues Leben. Den ungeheuerlichen Skandal, den das Drama heraufbeschwor, beantwortete Ibsen 1881 mit dem Stück »Gespenster«, gewissermaßen einem Gegenentwurf zu »Nora«, in dem die katastrophalen Folgen einer lediglich auf »Lebenslüge« und Heuchelei gegründeten Ehe aufgezeigt werden. Hier gelangte das »analytische« Drama Ibsens zu seiner Vollendung.
 
In den folgenden Stücken wird die Technik des analytischen Dramas immer wieder variiert. Dabei stößt Ibsen bis in die tiefsten, unbewussten Abgründe der menschlichen Seele vor. Sigmund Freud zog später häufig die Figuren des norwegischen Dramatikers als Fallbeispiele heran. Mit »Die Wildente« (1884) überschritt Ibsen allmählich den Naturalismus hin zu einem subtilen Symbolismus, wie ihn später auch der berühmte Dramatiker Tschechow in Russland pflegte: Die Handlung der Dramen spielt jetzt auf zwei Ebenen, einer realistischen und einer mythisch-symbolischen. In »Klein-Eyolf« (1894) etwa lässt sich je nach Perspektive das Ertrinken Eyolfs als Unfall oder als Einfluss der unheimlichen »Rattenmamsell« deuten. Auf diese Weise erzeugt Ibsen den Eindruck einer rätselhaften, doppelbödigen Wirklichkeit, in der der Mensch nicht mehr eigentlich Herr des Handelns ist, sondern in der unheimliche Kräfte wirken, die das Individuum mit Tod und Untergang bedrohen.
 
Verglichen mit den zwölf Gesellschaftsdramen Ibsens nimmt sich die Anzahl der international wirkungsmächtigen Stücke Strindbergs bescheidener aus; dennoch ist ihr Einfluss auf das moderne Drama keineswegs geringer einzuschätzen, zumal Strindberg sich weitaus radikalerer literarischer Mittel bediente als Ibsen. Wie der Norweger begann auch der 20 Jahre jüngere Schwede als Naturalist, der in seinem »Trauerspiel« »Fräulein Julie« (1888) das Geschehen durch Umwelt, Erbfaktoren und die zufälligen Gegebenheiten der Situation bestimmt sein lässt. Doch trotz dieser determinierenden Faktoren und der Konzentration der Handlung auf einen Raum und eine eng begrenzte Zeitspanne, die ebenfalls in Übereinstimmung steht mit dem naturalistischen Programm, ging Strindberg zugleich einen entscheidenden Schritt über dieses hinaus: Das Ballett im Zwischenakt erinnert an das wagnerische Gesamtkunstwerk, und die Figuren wirken derart stilisiert, dass man kaum noch von einer realistischen Personenzeichnung sprechen kann. Zudem löst Strindberg seine Charaktere in unterschiedliche, durch äußere oder innere Bedingungen veranlasste Rollenspiele und Maskeraden auf, die durch keinerlei Persönlichkeit mehr zusammengehalten zu werden scheinen. Deutlich tritt dieses Verfahren schon in dem frühen Drama »Der Vater« (1887) zutage, dessen Handlung durchaus absurd zu nennende Züge aufweist und so auf das absurde Drama Becketts oder Ionescos vorausweist.
 
Anders als Ibsen war Strindberg ein radikaler Experimentator, der sich nie mit einmal erreichten Lösungen zufrieden gab, sondern stets die Grenzen der Gattung ausloten wollte. Mit den Dramen »Nach Damaskus«, vor allem aber mit »Ein Traumspiel« und »Gespenstersonate« zog Strindberg die denkbar radikalste ästhetische Konsequenz aus der sich in »Der Vater« und »Fräulein Julie« bereits andeutenden Auflösung von Charakter und Persönlichkeit, indem er die Konventionen des aristotelischen Dramas aufgab und zu Formen vorstieß, die die Poetik des Surrealismus der Zwanzigerjahre nicht nur vorwegnahmen, sondern in gewisser Hinsicht bereits vollendeten. »Alles kann geschehen, alles ist möglich und wahrscheinlich«, heißt es in der »Vorbemerkung« zu »Ein Traumspiel«. »Zeit und Raum existieren nicht.. .. Personen spalten sich, verdoppeln sich, vertreten einander, verflüchtigen sich, verdichten sich, zerfließen, nehmen wieder Gestalt an.« Entsprechend verändert sich auch die Szene ständig: Aus »einer alten, schmutzigen Brandmauer« mit einer Gittertür wird »bei offenem Vorhang« das »Büro des Advokaten« - eine zunächst kaum zu bewältigende Aufgabe für die zeitgenössische Bühnentechnik. Der Aufführungserfolg des »Traumspiels« und der »Gespenstersonate« war damit entscheidend von der Entwicklung der Bühnentechnik abhängig.
 
Während in Ibsens späten Dramen aufgrund der Doppelperspektive die Realität abgründig bedrohlich erscheint, wird bei Strindberg im »Traumspiel« und einigen späteren Stücken die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit aufgelöst und damit auch der Begriff einer eindeutigen Realität grundsätzlich infrage gestellt. Dieser Unterschied in der Wirklichkeitsauffassung und -darstellung entspricht zugleich einem tiefen Mentalitätsunterschied zwischen beiden Dichtern: Der ältere Ibsen erwies sich immer wieder als Skeptiker, der an der Möglichkeit zweifelte, die Bedingungen des menschlichen Lebens grundlegend zu verändern, da er keinen festen Standpunkt mehr sah, von dem aus die Realität überschaut, geschweige denn beurteilt werden konnte. Der jüngere Strindberg hingegen war ein revolutionärer Neuerer, der die alten Auffassungen durch radikal andere ersetzte und damit den literarischen Modernismus mitbegründete. Beide Dichter jedoch haben in der heutigen Literatur Spuren hinterlassen, die ihnen nach wie vor eine immense Aktualität sichern.
 
Prof. Dr. Lutz Rühling

Universal-Lexikon. 2012.

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